Franz Joseph in den Augen seiner ungarischen jüdischen Untertanen

2016. szeptember 27. 17:55 - Glaesser

Ungarische Franz Joseph-Konferenz, Collegium Hungaricum Wien, 26-28. September 2016

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Die Frage des israelitischen Herrscherbildes im Dualismus ist die Geschichte der „Veränderungen“. Die religiösen Interpretationen des gekrönten Hauptes entstammten der Diasporainterpretation des Judaismus und der Judaisierung der antiken Herrscherverehrung. Die Erscheinung wurde durch die Modernisierung Europas modifiziert. Und die Standestraditionen verflochten sich oder stießen gelegentlich mit den modernen Nationsideen zusammen.

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 Der Vortrag untersucht die ungarischen israelitischen Adaptationen des ungarischen und österreichischen Franz Joseph-Bildes, die konfessionelle kollektive Erinnerung und die Herrscherverehrung des Judaismus als Loyalitätshierarchie im Spiegel von Leitartikeln, Nachrichten, Homilien, Kleindrucksachen und Gebetbüchern.

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 Die Verehrung des gekrönten Hauptes erwuchs aus den relgiösen Traditionen des Judaismus. In orthodoxen jüdischen Gemeinschaften, vor allem in Galizien und der Bukowina, bildete selbst noch während des Ersten Weltkrieges der Zug mit der Torarolle vor den Herrscher einen Teil des Empfanges des gekrönten Hauptes. In diesem Kontext erhält der in der Projektion zu sehende galizische Chassiden- Toraschild einen Sinn. Das Wappentier, der Habsburgische Doppeladler, auf dem „Schild Davids“, dem Davidstern, war ein symbolisches Mittel zur Bezeigung der Verehrung des gekrönten Hauptes. Die Verknüpfung der Verehrung des gekrönten Hauptes und der Tora wird von der religiösen Tradition her verständlich. Die von der huldigenden Gesandtschaft getragene Tora ist das vergegenständlichte Symbol der geoffenbarten Lehre. Die Frage kann von der Liturgie und der religiösen Literatur her beleuchtet werden.

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Das Religionsgesetz schreibt beim Besuch des Königs einen Segen vor: „Gesegnet bist Du, unser Ewiger Gott, König der Welt, von dessen Herrlichkeit dem Menschen aus Fleisch und Blut zutei wird.“ Die Perzeption Franz Josephs der jüdischen Gemeinschaft wurde durch die Doppelheit der religiösen Traditionen des Judaismus und ihres Verhältnisses zu den modernen Nationsideen bestimmt. Joseph Schöns Gebetbuchserie war das verbreitete Gebetbuch der österreichisch-ungarischen Monarchie in hebräisch-deutscher und hebräisch-ungarischer Variante gleichermaßen. In seinem Festgebetbuch (Machzor) stand bei den Gebeten auch das Bittgebet für Franz Joseph, das Herrscherhaus und das Vaterland. Das Sabbat- und Festtagsgebet für das Wohl des Staates oder des Herrschers hob das Gebet für die nichtjüdische weltliche Macht in den Dialog mit dem Ewigen hinein. Die Gebete der Gottesdienste ersetzten die Opfer im Heiligtum. Deshalb ist das Gebet für den Herrscher ein wichtiger Ausdruck des Verhältnisses von Judentum und Macht. Seine Vorbilder lassen sich in der Antike entdecken. Pavla Damohorská betrachtet es als die Judaisierung der ägyptischen und römischen nichtjüdischen Praxis. Die Varianten der seit dem 17. Jahrhundert erscheinenden Hanoten tesuah-Texte zeigen das Verhältnis der Gemeinschaft zum weiteren soziokulturellen System.

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Das gekrönte Haupt ist die blasse diesseitige Widerspiegelung des Ruhmes des Schöpfers der Welt und zugleich auch der Depositär der Ordnung und der Sicherheit des Judentums. Dies erörterte allgemeinverständlich in ungarischer Sprache der orthodoxe Oberrabbiner S. Leo Singer in Großsteffelsdorf (Rimaszombat) 1907 in seiner als Lehrbuch der Herzenpflichten herausgegebenen Hovat haLevavot-Bearbeitung. Die prämodernen jüdischen Gemeinschaften standen unter königlichem oder grundherrlichem Schutz. Die jüdischen Bürger der sich modernisierenden Monarchien konnten bei ihren gemeinschaftlichen Angelegenheiten ebenfalls auf herrscherliche Fürsprache hoffen. In seinem der bürgerlichen Lebenswelt angepassten religösen Handbuch hat sich Oberrabbiner Singer gesondert mit der Verehrung von Krone und Macht beschäftigt, unter dem Titel K’vod haMalchut (Verehrung des Königtums). Er leitete die Verehrung des Königs von den Sprüchen der Väter (Pirké Avot III. 2) ab: „»Bete um den Frieden von König und Macht, um sein Heil und glückliches Leben, denn wenn es keine Furcht vor ihm gäbe, würde einer den anderen lebendig verschlingen.«“. Die Mischna eignet den Spruch Rabbi Chanina zu, dem Stellvertreter des Oberpriesters. Oberrabbiner Singer gab im Lehrbuch der Herzenpflichten auch die religöse Interpretation an: „Unsere heilige Religion gebietet uns Danksagungsverehrung für König und Obrigkeit, weil diese, in dem sie gleiche Gerechtigkeit üben, über unser aller Ruhe wachen, damit wir bei unserem nützlichen Wirken nicht durch böse Menschen gestört werden.“ Neben dem anlässlich des Besuchs des gekrönten Hauptes zu sprechenden Segen ging er [Oberrabbiner Singer] auch auf die Loyalität gegenüber dem König ein. „»Fürchte den Ewigen und den König, mische dich nicht unter Empörer und Vaterlandsfeinde.«“ (Sprüche Salomos 24:21). Oberrabbiner Singer hat die Verehrung des Königs als Verehrung der Ordnung der Heimat begriffen. „Wer die Gesetze seiner Heimat nicht ehrt oder sie ausspielt; wer sich seinen Pflichten gegenüber seiner Heimat auf irgendeine Weise entzieht; wer unter den Bürgern seiner Heimat Ungleichheit schürt, statt den friedlichen Zusammenhalt zu fördern und zu stärken, vergeht sich nicht nur gegen das klare Gesetz unserer Religion, sondern ist auch ein ehrloser Mensch, der außer Gottes Strafe auch die Verachtung seiner Bürger zu Recht verdient.“ Oberrabbiner Singer hat in seinem Buch das Bild des von Gott legitimierten Herrschers gezeichnet. Dieser prämoderne Herrscher stand außerhalb der Gesellschaft, verkörperte aber doch ihre Ordnung. In Ungarn war die neologe Rabbinerfamilie Löw die bestimmende Autorität der modernen israelitischen symbolischen Politik. Betreut von Immanuel Löw enthielt das 1903 in Szeged erschienene Gebetbuch Imádságok zsidók számára (Gebete für Juden) auch zwei Formulierungen in ungarischer Sprache des Gebetstextes für den König. Beide Gebetstexte verkörperten die Struktur der Gesellschaft vom König bis zur betenden „Gemeinde“. Sie erbaten Gottes Segen für die Vertreter der Macht, die Nation, die Stadt und die Gemeinschaft. Als Mottos gab Immanuel Löw Sprüche der Väter und Sprüche Salomos an. In dem mitgeteilten Gebetstext waren der König, Franz Joseph, die ungarische Nation und das Vaterland miteinander verflochtene Begriffe. Das kann gleicherweise von den Gebetsvarianten Rabbi Leopold Löws, des „1848er“ Veteranen, und seines Sohnes Immanuel Löw gesagt werden.

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Im Laufe des 19. Jahrhunderts mussten die modernen Nationsideen und gesellschaftlichen Veränderungen in den jüdischen Gemeinschaften mit dem traditionellen Rahmen des Judaismus in Einklang gebracht werden. Die Vertretung des Hofes, die Institution des stadlanut, und die Verehrung des gekrönten Hauptes waren Teile der jüdischen Gemeinschaftstraditionen Europas. Mit der Modernität änderte sich jedoch das Institutionensystem selbst. Der prämoderne, außerhalb der Gesellschaft stehende, von Gott legitimierte Herrscher trat in den Raum der gesellschaftlichen Prozesse ein, zu Schtadlanen, den Personen, die die Gemeinschaft am Hof des Herrschers vertraten, die Gebräuche und Verhältnisse der äußeren christlichen Gesellschaft gut kannten und die Rolle des Gemeinschaftssprechers ausfüllten, wurden andere Personen: Lieferanten des kaiserlichen und königlichen Hofes oder in der modernen Politik bewanderte Männer mit Kenntnissen in den weltlichen Wissenschaften. Die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts gestaltenden jüdischen Gruppenstrategien institutionalisierten sich infolge der Teilung des ungarischen Judentums nach dem ungarischen Judenkongress 1868−69, der zum Zweck der einheitlichen konfessionellen politischen Vertretung einberufen worden war. Das Verhältnis zu Franz Joseph bestimmten über die religiösen Traditionen hinaus ebenfalls seine in der späten Konfessionalisierung des Judentums gespielte Herrscherrolle und seine symbolischen Gesten im Laufe der internen Richtungsstreitigkeiten. Neologie und Orthodoxie haben neben ihrer eigenen Institutionalisierung die gesellschaftliche Integrierung, die bürgerliche Gleichberechtigung des Judentums und auch seine Aufnahme unter die anerkannten Konfessionen als Verdienst des Herrschers betrachtet. Damit wurde Franz Joseph zum das Judentum schützenden tief religiösen katholischen Herrscher.

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Die Emanzipation und die gesellschaftliche Funktionsübernahme ermöglichten dem mitteleuropäischen Judentum die Identifizierung mit den modernen Nationsideen. Diese wiederum beinhalteten unterschiedliche Loyalitätserwartungen, Loyalitätskonflikte und auch Loyalitätshierarchien. Anders als im habsburgischen Österreich, wo die Äußerung der Loyalität gegenüber dem Staat die Darstellung der Loyalität gegenüber der Dynastie war, wurde in Ungarn die Darstellung der Loyalität gegenüber der Nation zur Identifizierung mit der assimilativen ungarischen kulturellen Nationskonzeption.

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Die ungarische öffentliche Meinung der österreichisch-ungarischen Monarchie war immer von der staatsrechtlichen Debatte bestimmt. Im Falle des Bildes von Franz Joseph schlug sich die staatsrechtliche Debatte als „kurutzische“ ungarische symbolische Politik nieder. Lajos Kossuth und seine ungarischen Anhänger griffen den Ausgleich der Dynastie, des freisinnigen ungarischen Adels und eines Teils der österreichischen Bürgertums an. Die Rabbiner und Publizisten, die die ungarische israelitische symbolische Politik gestalteten, standen auf den Grundlagen des Ausgleichs. In anderen Gruppierungen der ungarischen Gesellschaft befanden sich ebenfalls jene meinungsbildenden Revolutionsveteranen, die im Ausgleich von 1867 die Wiederherstellung der Verfassungsmäßigkeit, die Regelung des Verhältnisses von Nation und Herrscher sahen.

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Im kulturellen Gedächtnis der Neologie ist 1848 das Symbol der Verschmelzung mit der modernen ungarischen Nation. Zwar wurde in der israelitischen Öffentlichkeit von der symbolischen Unabhängigkeitspolitik gesprochen, doch war sie nicht gegen Franz Joseph gerichtet, sondern berufen, in einem mehrfachen Loyalitätssystem die Zugehörigkeit zur ungarischen Nation zum Ausdruck zu bringen. In der neologen und orthodoxen Presse verlief der Diskurs zwischen „kurutzisch“ national und königstreu staatspatriotisch die ganze Zeit parallel nebeneinander her. Im Falle von Loyalitätskonflikten setzte sich dennoch die durch die religiösen Modelle legitimierte Königsverehrung durch. Ein gutes Bespiel dafür ist die orthodoxe jüdische Todesnachricht Lajos Kossuths. Die Artikelserie betonte die Akzeptierung des Ausgleichs und die Königstreue: „kämpfen wir weiter mit unveränderbarer Kraft und Ausdauer mit den erprobten Gefühlen der Königstreue und Achtung der Verfassung unter den Besten des Vaterlandes“. Man fasste die Frage des orthodoxen jüdischen Patriotismus zusammen. Die orthodoxe Presse veröffentlichte wiederkehrend Geschichten, folkloristische Bearbeitungen und Texte voller wunderbarer Elemente von den Herrschergesten Franz Josephs in Richtung des Judentums und seiner Größe. Diese erschienen auch in der neologen Egyenlőség (Egalität).

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Mit der Entstehung der Aufklärung und des modernen politischen bürgerlichen Selbstbewusstseins erschienen die Synagogenreden, die die großen Ereignisse in der nationalen Geschichte der Mehrheit reflektierten, sowie die Adaptationen der symbolischen Politik der Umgebung im Rahmen des Judaismus. Am Namens- und Geburtstag des Herrschers und in Gottesdiensten anlässlich der Riten zu den Lebenswenden der Herrscherfamilie reflektierten viele Rabbinerreden in den Synagogen die Ähnlichkeiten der Heiligen Schrift und der Geschehnisse des Ausgleichs. Und die Beerdigungsansprache Immanuel Löws für Franz Joseph zeichnete das Bild des zeitgenössischen biblischen Königs. „Unser großer König liebte die Aufrichtigen. Er trug den Titel des Königs von Jerusalem und folgte den Lehren Salomons. […] Die Heilige Krone ist eine glanzvolle Zierde: aus ihr strahlt Licht des Jenseits, das zur Huldigung zwingt, aber Liebe, Zuneigung, aufopfernde Begeisterung weckt der Träger der Krone.“

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Nach Marsha Rozenblit identifizierte sich in Habsburg-Österreich ebenso wie in Ungarn jede der jüdischen Richtungen mit den Weltkriegszielen der Monarchie. Die Budapester neologe israelitische Wochenzeitung Egyenlőség sprach dem Herrscher und der Dynastie die Erhaltung des Friedens zwischen den Völkern und Konfessionen der Monarchie zu. Die Dynastie war für sie eine über Nationen und Religionen stehende Institution, die allein zur Bewahrung der Reichseinheit berufen war. Einzelne Personen der königlichen Familie fügte sie in die ungarische symbolische Politik ein. Auch in den Gebetspostkarten der Propagenda des Ersten Weltkrieges tauchte der Gebetstext für den Herrscher mit dem Porträt Franz Josephs und/oder Kaiser Wilhelms auf. Diese Postkarten haben die Identifizierung der jüdischen Mittelschichten mit den mitteleuropäischen Kriegszielen verewigt.

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Der Pester Rabbi Simon Hevesi hat in seinem Gebet Franz Joseph mit Moses verglichen, der die Juden bei der Wüstenwanderung führte. „Zu Dir flehten wir an der Schwelle der Kämpfe: Ewiger Gott. Herr der Heerscharen, der Du dem Volk Kraft gibst. […] Segne unseren König, den Du als Moses für den richtungsweisenden Weg verordnet hast, lass auf ihn in deiner Gnade das Licht deines Triumphes strahlen, damit er seine Feinde bremsen kann.“ So steht es im Mai 1915 nach dem Sieg von Gorlice auf der Titelseite von Egyenlőség. Das Franz Joseph-Bild des judaisierten königstreuen Staatspatriotendiskurses folgte der Zeitanschauung der Liturgie und der Homilien. Das kulturelle Gedächtnis suchte seine Parallelen. Es wies die wesentliche Identität Franz Josephs und der Könige der Heiligen Schrift nach. Darauf schichteten sich das auf den Grundlagen des Ausgleichs stehende Königsbild des ungarischen historischen Gedächtnisses und die positive Erfahrung des zeitgenössischen Judentums.

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Wichtige Institutionen der gesellschaftlichen Integration des Judentums waren die modernen Rabbinerseminare. Den Schulanspruch der staatsloyalen modernen jüdischen Richtung, die sich in die Mehrheitsnation integrieren wollte, unterstützte auch die Dynastie. Die von Franz Joseph 1849 eingezogene Toleranzsteuerschuld hat der Herrscher 1850 für die Gründung des „Jüdischen Unterrichtsfonds“ verwendet. Als dessen Entwicklung entstand 1877 das Pester Rabbibildungsinstitut. Franz Josephs Besuch in der neuen Institution bewahrt bis heute eine Gedenktafel. Nach Franz Josephs Tod nahm das Rabbiseminar mit Genehmigung König Karls den Namen des verstorbenen Herrschers an. Die Zeit Franz Josephs wurde in den israelitischen Interpretationen zwischen den beiden Weltkriegen zum verschwundenen Goldenen Zeitalter.

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